100 Kilometer wandern. Am Stück. Dazu rund 2500 Höhenmeter. Ich würde mal behaupten, dafür braucht man ein starkes „Why“, denn nüchtern betrachtet ist das für Nicht-Masochist*innen durchaus eine üble Form der Selbstkasteiung. Gut, dass ich am vergangenen Freitag (und Samstag …) dieses „Why“ hatte, als ich über 27 Stunden durch die Ardennen gelatscht bin, ohne Schlaf, Tag und Nacht, auf teils anspruchsvollen Wegen. Aber beginnen wir von vorn:
„Krass, aber spannend.“ Das war mein erster Gedanke, als mein Kollege Benedikt Ende 2022 den OXFAM Trailwalker als mögliches Sportevent ins Spiel brachte. Zumal dieser Ultramarsch durchaus Historie bei Cologne Intelligence hat: „Vor meiner Zeit“ (die 2019 begann) haben schon einige CI-Teams die 100 Kilometer bewältigt. Einer davon ist Michael Daun, der beim Open Friday auch gleich eine mitreißende Präsentation über seine Erfahrungen im Gepäck hatte und hoch motiviert war, das Abenteuer ein weiteres Mal in Angriff zu nehmen. Kurzum: Ich war angefixt und erzählte das in der Homeoffice-Mittagspause auch gleich meinem Mann. Der nur skeptisch konstatierte, dass so ein Ultramarsch nicht unbedingt eine Fitnessfrage sei, sondern echte Bereitschaft zur Selbstquälerei erfordere. In diesem Moment entschied ich, mich der Herausforderung zu stellen. Aus Trotz, weil mir nach zwei Geburten wirklich niemand mehr was über Leidensbereitschaft erzählen braucht, und weil ich es spontan toll fand, dass der OXFAM-Marsch kein Selbstzweck ist, sondern ein Spendenmarsch im Team.
Um beim OXFAM Trailwalker starten zu dürfen, benötigt man Mitstreiter*innen, einen vollen Fundraisingtopf sowie zwei Supporter, die die Läufer*innen unterstützten und als Notfallkontakte vor Ort sind. Für die 100-Kilometer-Distanz (es gibt auch noch die 25er-Variante) müssen die vierköpfigen Teams vorab über eine von OXFAM zur Verfügung gestellte Website 1750 Euro Spenden sammeln, die direkt an Projekte zur Armutsbekämpfung bzw. in akute Katastrophenhilfe fließen. Die Kosten für den Marsch selbst sind über die Anmeldegebühren gedeckt. Die Teamgröße für 25 Kilometer ist variabel zwischen zwei und acht Personen, hier müssen 1000 Euro gesammelt werden.
Wir haben im Februar schließlich drei 100-Kilometer-Teams und ein dreiköpfiges 25-Kilometer-Team registriert und mit der Vorbereitung losgelegt. Ganz ehrlich: Diese habe ich komplett unterschätzt.
CI hat für unsere Teams die Anmeldegebühren, Wandershirts und eine Vorabübernachtung in Belgien gesponsort (Start war um sieben Uhr morgens), sodass wir die gut 90 Tage zwischen Anmeldung und Marsch für Fundraising und Training nutzen konnten.
Für die Fundraisinghürde haben wir immer wieder bei Kolleg*innen, im Freundeskreis, in unseren Familien von unserer Mission erzählt, haben gebacken, QR-Codes auf Geburtstagsparties aufgestellt und unsere Social Media-Netzwerke aktiviert, bis am Ende alle Töpfe gefüllt und eine stolze Gesamtsumme vom 6511 Euro gesammelt war. Learning: Das ist gar nicht so trivial, hat aber einen enorm positiven Effekt auf die Motivation, den Marsch auch durchzustehen, immerhin hat man ja seine Glaubwürdigkeit in den Ring geschickt, um Geld von einem persönlich bekannten Menschen zu sammeln.
Die Trainingshürde haben die verschiedenen Teilnehmer*innen im Vorfeld glaube ich sehr unterschiedlich eingeschätzt, und ich bin froh, dass eine 30-Kilometer-Testwanderung mir bereits im Februar aufgezeigt hat, dass es eben nicht „nur“ Spazierengehen ist und dass Sportlichkeit allein nicht reicht. Dass auch Socken, Schuhe und insbesondere die Ernährung während einer so langen Bewegungszeit getestet sein wollen. Und dann kamen die ersten 40 Kilometer im Training, nach denen ich ballonartig geschwollene Hände hatte und so gelernt habe, dass sich irgendwann einfach das Blut staut, wenn man die Finger nicht ausreichend bewegt. Wie gut, dass es Stöcke gibt, seit meiner zweiten 40-Kilometer-Tour weiß ich nämlich, dass diese nicht nur Ballonfinger verhindern, sondern auch die untere Körperhälfte entlasten und Schwung verleihen. Und immer so weiter, Stück für Stück, ich habe wirklich aus jedem Test neue Erkenntnisse gewonnen.
Das wichtigste Learning: Allein wandern finde ich für ungefähr 30 Kilometer meditativ. Für alles darüber hinaus brauche ich Gesellschaft. Umso schöner, dass wir einige Male mit OXFAM-Teilnehmer*innen, aber auch (abschnittsweise) mit weiteren wanderlustigen CI-Menschen gemeinsam auf lange Märsche in Köln, durch Köln und schließlich 60 Kilometer um Köln herum gegangen sind.
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so aufgeregt war, wie in den Tagen vor dem Marsch. Die Herausforderung selbst, aber auch die Organisation von Fahrgemeinschaften, Bettenzählen für die Vorabübernachtung … Dass dann auch noch am Abreisetag die beiden Supporter meines Teams kurzfristig krankheitsbedingt abgesagt haben, hat das Stresslevel dann endgültig auf 180 katapultiert. Immerhin, nachdem wir mit dem Veranstalter eine Support-Lösung gefunden und sich meine Fahrgemeinschaft mit Ulf (einem 38 Jahre alten, gelben VW-Bus mit einer Höchstreisegeschwindigkeit von 80 Stundenkilometern) auf den Weg nach Belgien gemacht hatten, legte sich auch die nervöse Anspannung und ich konnte die Nudelsalat-Party in unserem Airbnb schon wieder genießen.
Den Wecker um fünf Uhr hätte ich dennoch nicht gebraucht, ich bin schon zehn Minuten vorher wach und kribbelig. Aufstehen, Sachen packen, Frühstücksversuch, Kaffee, „Guten Morgen Sonnenschein“ in Dauerschleife. Stelle fest, dass ich beim Wäschemachen statt des Paars wandererprobter Kompressions-Kniestrümpfe einen davon mit einem anderen schwarzen Sportstrumpf verheiratet habe, also Start mit Wechselsocken. Bubumm, der Herzschlag galoppiert wieder. Gut, dass unser 25-Kilometer-Team erst mittags an den Start geht und noch gemeinsam mit den Supportern das Airbnb aufräumt. Es ist ruhig im Auto, als Ulf uns zum Airfield in Saint-Hubert schaukelt, wo Start, Ziel und ein Zwischen-Check-Point des Marschs sind. GPS-Tracker einsammeln, Pipi, LOS! Naja, zumindest für die Teams „CI on Tour #1“ und „CI on Tour #2“, Team #3 ist bereits ein Stück vorausgeeilt, die wollen es wissen.
Und dann ist es erstmal so richtig schön! Klare Luft, blauer Himmel, hübsche Dörfer, malerische Wälder und UNFASSBAR viele glückliche Kühe, dazu eine gut gelaunte Gruppe, angeregte Gespräche. Mein Trinksystem beschert mir zwar bereits nach fünf Kilometern das erste Watergate, zum Glück hat es aber nur meine Erdnussbutterbrote ein wenig durchnässt. Das Päuschen nach 25 Kilometern führt uns erstmals mit den Supportern zusammen, sodass wir Snackvorräte auffüllen, überflüssige Jacken abgeben und kurz durchschnaufen können.
Der nächste Checkpoint nach 36 Kilometern ist ein idyllischer Park mit See, eine echte Genusspause mit liebevoll vom Supporterteam belegten Broten, einer Runde Fußpflege mit Hirschtalgcreme (bevor es zu Kopfkino kommt: Die Füße haben wir uns selbst eingecremt) und kurzem Abhängen im Campingstuhl. Danach geht es landschaftlich schön weiter bis ins Örtchen Arville, wo uns nach gut 43 Kilometern Wanderung neben den Supportern auch der erste Versehrte des Schnellstarterteams begrüßt. Aber, so lernt man schnell auf diesem Marsch, man sollte sich besser nicht fragen, ob man die gesamten 57 verbleibenden Kilometer noch schafft, sondern nur schauen, ob es noch bis zum nächsten Checkpoint, hier wäre das die Pastaparty am Airfield, geht. Frage mit „Ja“ beantwortet, Läufer adoptiert, weiter geht‘s. Bis hierhin muss ich sagen, habe ich die Tour wirklich genossen. Dank des akribischen Trainings hatte ich genug Energie, sodass mir auch die stetigen Höhenmeter nichts ausgemacht haben, das Wetter war toll, die Begleitung ebenso. Etwas schmerzhafter wird es, als ich eine gute Stunde vor dem Airfield kein Wasser mehr im Trinkschlauch, wohl aber sehr viel Wasser in meiner Blase habe. Zudem frischt es mit Wind und sinkender Sonne ziemlich auf, ich habe jedoch alle Jacken im Supporter-Auto. Nach einem ganzen Tag Snackerei lechze ich enorm nach warmem Essen, kurz: Hunger, Pipi, kalt und das erste Mal richtig durchbeißen. Ich bin sehr froh, dass ich pastahungrige und speedwillige Begleitung habe, sodass wir zu dritt ein wenig Gas geben und den Abschnitt möglichst schnell hinter uns bringen können.
Als wir das Airfield erreichen kommt trotzdem der erste mental wirklich schwierige Moment: Enorm viele Menschen, darunter viel Feierpublikum und die 25km-Finisher, viele Läufer*innen, alles unübersichtlich. Die Supporterautos mit Jacken gut 500 Meter entfernt um die Ecke, die Supporter selbst eingebunden, weil unser Versehrter die 13 Kilometer doch nicht mehr ganz geschafft hat und eingesammelt werden muss (DANKE liebe Eveline für die erste Hilfe in Form deiner eigenen Jacke), Schlangen an der Pastaausgabe und dann Nudeln ohne Salz. Dass bei mir deswegen Tränen der Verzweiflung fließen, führt mir deutlich vor Augen: Jetzt wird’s garstig. Eigentlich bist du durch, gleich wird es dunkel. Aber du musst noch 44 Kilometer weiterlatschen.
Auch für meine Mitstreiter*innen ist es ein harter Punkt, für einige dann sogar das gesundheitsbedingte Ende: Blasen, totale Erschöpfung und Vernunft (weil die Erkältung noch nicht ganz weg war), nach der Pastaparty sind wir nur noch acht von zwölf Läufer*innen und fusionieren für den Rest des Marschs zu einer großen Gruppe. An dieser Stelle sei nochmal schriftlich festgehalten: Natürlich ist es frustrierend, wenn einen der Körper zum Aufhören zwingt. ABER: Es sind alle mindestens 50 Kilometer gewandert! Das ist für sich schon ein Ultramarsch, erst recht mit den vielen Höhenmetern. Und nach einer Mütze Schlaf haben es sich diese vier nicht nehmen lassen, die verbleibenden Läufer*innen absolut fantastisch zu supporten. Das ist echter Teamgeist!
Die Pause am Airfield fällt jedenfalls recht lang aus, es müssen Wunden verarztet, Ausrüstung für die Nacht gerichtet und Elektrolyte getankt werden. Warnwesten an, Stirnlampen auf, weiter.
Wer denkt, nach dem ersten Low Light wird es besser: Nein. Was nun folgt, sind die körperlich wie mental härtesten, herausforderndsten Stunden meines Lebens, mal abgesehen von den Geburten meiner Kinder. Mit leeren Akkus in die Finsternis laufen, Kilometer über Kilometer bergauf im Matsch und über Schotter, 15 Kilometer bis zum ersten, ungemütlichen und bereits ziemlich geräuberten Waterpoint mitten im Wald ohne Supporter, weitere acht Kilometer bis zum nächsten Supporter-Checkpoint in einem alten Flugzeughangar. Irgendwie zusammen da durch, die einen als Psychosupportsquad, die anderen im Tunnel. Immer, immer, immer weiter. Der Magen rebelliert, eine Stunde für einen blöden Proteinriegel. Mäusebissen abbeißen, mit Wasser runterspülen. Mäusebissen. Nicht essen ist auch keine Option, man verbraucht einfach unglaublich viel Energie. Am Checkpoint keine Suppe mehr da, zum Glück haben wir die besten Supporter und bekommen heiße 5-Minuten-Terrine. In unserem Team redet schon lange niemand mehr, die belgischen Teams auf dem Weg sind da wesentlich lauter und fröhlicher. Uns geht Fröhlichkeit auf die Nerven, wir haben keine Lust mehr. Hunger, Pipi, Müde, Schmerzen, alles. Aber jetzt haben wir 80 Kilometer. Und wenn man das schon geschafft hat, dann gibt man nicht mehr freiwillig auf.
Ich gestehe, dass ich etwas höhere Erwartungen an den Sonnenaufgang hatte. Stattdessen dämmert es und wird einfach irgendwann hell, im Wald ist nicht viel mit lila Wolken. Aber allein das Tageslicht ist eine enorme Erleichterung nach den schwer begehbaren Matschwegen in der Finsternis. Dafür habe ich einen neuen Feind: Schotter. Ich hasse Schotter. Für immer ab jetzt. Permanent aufpassen, dass man nicht umknickt, keine Schonung für schmerzende Füße. Immerhin, die letzten 20 Kilometer sind in drei kürzere Häppchen geteilt und am letzten Checkpoint, der Schule in Saint-Hubert, umsorgen uns die Supporter mit Kaffee und Marmeladenbrot. Ich hatte ja keine Ahnung, wie himmlisch so ein Weißbrot mit Marmelade sein kann! Nur noch sieben Kilometer. Schön ist die Aussicht auf zwei weitere Stunden trotzdem nicht.
Der letzte Abschnitt ist schräg. Eigentlich haben wir schon das Gefühl, es geschafft zu haben, aber wir haben es verdammt nochmal noch nicht geschafft, wir latschen immer noch, da ist immer noch Schotter, der nächste Hügel, die nächste ekelhaft glückliche Kuh. Lenas Achillessehne will nicht mehr bergauf, Maurices Knie will nicht mehr bergab, Georgs Blasen brauchen Wanderstöcke als Krücken.
Im Ziel heulen wir erstmal. Also ich heule. Und ein paar andere Tränchen habe ich auch gesehen. Was für ein Marsch! 27 Stunden sind seit unserem Start vergangen, die Sonne ist zweimal auf und einmal untergegangen und ich habe ganz neue Einblicke in meinen eigenen Körper und Geist bekommen. Ich habe einen ganzen Haufen Menschen, denen ich mich sehr verbunden fühle und für die ich unheimlich dankbar bin. Ich kann mir insbesondere im Nachhinein absolut nicht vorstellen, wie (und wieso) man SOWAS allein, ohne Team, ohne Support oder als Hobby machen kann. Für mich war das eine krasse, auch tolle, aber definitiv einmalige Grenzerfahrung. Ich bin wahnsinnig stolz das geschafft zu haben und biete mich hiermit einem willigen Läufer*innenteam sehr gerne als Supporter für den OXFAM Trailwalker 2024 an. Over and out.