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Kognitive Dissonanz und Agile Softwareentwicklung

Auf den ersten Blick scheinen kognitive Dissonanz und Agile Softwareentwicklung wenig gemein zu haben, aber bei genauerem Hinsehen…

Foto von Fabrizio Scarpati
Fabrizio Scarpati

Agile Coach

Vor kurzem hörte ich einen interessanten Bericht im Radio, in dem es um kognitive Dissonanz ging, einen zentralen Begriff aus der Sozialpsychologie. Die Theorie der kognitiven Dissonanz beschreibt einen als negativ empfundenen Gefühlszustand, der entsteht, wenn wir mehrere Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten haben, die nicht miteinander vereinbar sind. Da dieser Widerspruch als unangenehm empfunden wird, versuchen wir diesen Zustand zu vermeiden, und neigen sehr stark dazu, die Dissonanz möglichst rasch aufzulösen oder zumindest zu reduzieren. Wir versuchen diese gegensätzlichen Tendenzen miteinander vereinbar zu machen, und verfolgen dafür bewusst oder unbewusst diverse Strategien, etwa das Verändern, Verschieben oder Verdrängen der Einstellung, des Verhaltens oder der eigenen Überzeugungen, und dies alles beeinflusst unsere Entscheidungen.

Ein gerne strapaziertes Beispiel dafür ist das Thema Rauchen: laut wissenschaftlicher Faktenlage sollte heutzutage jedem klar sein, dass das Rauchen wenig gesundheitsförderlich ist. Fragt man Raucher nach ihrem Verhalten, hört man etwa: sie rauchen „gern“, ihnen schmeckt „die Zigarette nach dem Essen“, sie kennen „viele Leute, die trotz Rauchen lange und gesund gelebt haben“ oder verweisen auf „berühmte Persönlichkeiten, die bis ins hohe Alter geraucht haben“. Der Konflikt wird dann unbewusst so aufgelöst, dass andere, „wichtigere“ Gefühle in den Vordergrund gestellt werden, oder Fakten schlicht verdrängt oder gar verleugnet werden. Vereinfacht gesagt: „sie reden sich die Welt schön“, rechtfertigen so das, was sie immer gemacht haben und suchen im Zweifel die Ursachen für mögliche gesundheitliche Probleme lieber „woanders“. Die kognitive Dissonanz verschwindet. Der Raucher raucht beruhigt weiter.

Wir alle treffen natürlich tagtäglich eine Vielzahl von Entscheidungen. Viele sind banal, manche sind elementar und komplex, längst nicht alle sind clever oder rational durchdacht. Immer entscheiden wir uns zwischen verschiedenen Alternativen, und es kann schnell passieren, dass wir im Nachhinein Informationen erhalten, die uns an unserer Wahl zweifeln lassen.

Dies verhält sich auch in der komplexen Domäne der Softwareentwicklung nicht anders. Was aber geschieht, wenn wir im Rahmen von Softwareentwicklungsprojekten auf kognitive Dissonanzen stoßen? Wenn wir etwa feststellen, dass unser Prozess, der doch immer prima funktioniert hat, auf einmal zu versagen scheint? Wenn wir „Scrum“ auf der Verpackung stehen haben, aber eigentlich alles andere tun, als die Motivation und Regeln des Scrum Frameworks ernsthaft zu verfolgen? Wenn wir die Ursachen für Probleme immer darin zu finden scheinen, dass wir einfach nicht genug Zeit oder Ressourcen hatten, um die Dinge eingehend zu analysieren? Und überhaupt: am Ende sollte die Software doch etwas völlig anderes können, als am Anfang gesagt wurde! Und war der Zeitplan nicht ohnehin völlig unrealistisch und der Kunde total… schwierig?!

Erfahrungsgemäß ist es hier tendenziell keine valide Lösung, sich einfach damit abzufinden und zufrieden zu geben, sich nicht professionell mit möglichen Ursachen zu beschäftigen und unbewusst kognitive Präferenzen darüber entscheiden zu lassen, was wohl als nächstes geschieht, auch wenn hierdurch die wahrgenommene kognitive Dissonanz kurzfristig verschwinden mag.

Ich freue mich in solchen Momenten immer sehr darüber, dass Agiler Softwareentwicklung eine völlig andere Fehlerkultur und die gewissermaßen institutionalisierte Erkenntnis zugrunde liegen, durch kontrolliertes iterativ-inkrementelles Vorgehen, Entscheidungen bewusst korrigieren und aus Fehlern lernen zu wollen.

Ja, auch mir fällt es nicht immer leicht, ehrlich zu mir selbst zu sein und mit aller Konsequenz bewusst zu Entscheidungen und Fehlern zu stehen, anstatt vor unangenehmen Wahrheiten die Augen zu verschließen. Aber das Wissen, dass diese Fehler nicht allzu dramatisch ausfallen, und das Vertrauen, Fehler machen zu dürfen, um daraus zu lernen, beruhigen mich und machen es mir deutlich leichter, Mut zu fassen, Entscheidungen zu revidieren und Verhaltensweisen zu ändern.

Konfuzius sagt: „Einen Fehler machen und sich nicht bessern: das erst heißt fehlen.“